Memo: Das wacklige Narrativ

Schlüttsiel und Biberach sind in kurzer Zeit zu Chiffren für übergriffige Proteste gegen die Grünen geworden. In den Medien haben sie ein großes Echo ausgelöst. Beklagt wird dabei insbesondere eine Verrohung der politischen Auseinandersetzung. Dieses Problem wird nicht erst seit gestern thematisiert. Mit den anti-grünen Attacken scheint aber – so zumindest der medial vermittelte Eindruck – eine neue Qualität erreicht. Auch in der Politik ruft man zur Mäßigung auf – im Wesentlichen nach rechts gerichtet. Von allen anderen erwartet man Solidarität, etwa in Form einer (teilweisen) Verurteilung der Bauernproteste, die man rechtsextrem beeinfluss sieht, und auch einer Entsagung von schärferer Rhetorik gegen die Grünen insbesondere in Unionskreisen. Was hat es mit dieser diskursiven Dynamik auf sich? Und was hat das mit der Digitalisierung zu tun?

Der Hass gegen Politiker ist nun schon eine Weile Thema, wenngleich dieses Problem nicht mit derselben Intensität diskutiert wird wie etwa Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Ältere Angriffe wie auf Wolfgang Schäuble außer Acht gelassen, hatte es zuletzt etwa mehr Aufmerksamkeit Ende der 2010er Jahre, als eine kleine Welle des Rechtsterrorismus zu verzeichnen war. Besondere Fälle waren damals die Ermordung Walter Lübckes oder auch das Attentat auf Henriette Rieker. Generell wurden An- und Übergriffe auf Lokalpolitiker damals öfters diskutiert. Auch dass die Grünen vielen als Hassobjekt gelten, wurde in den vergangenen Jahren wiederkehrend problematisiert, insbesondere im Zusammenhang mit Misogynie. Grüne Frauen wie etwa Ricarda Lang oder Annalena Baerbock sind dabei besonders Zielscheibe, erhalten viele Anfeindungen und eine spezifische Kritik an ihrer Arbeit, die sich an ihrer Weiblichkeit aufhängt; Kommentare zu ihrem Äußeren stehen auf der Tagesordnung.

Gleichwohl wird dieses reale Problem nicht unbedingt ins richtige Verhältnis gesetzt. Linkerseits sah man etwa bei der letzten Bundestagswahl Baerbock besonders stark diffamiert. Tatsächlich wurde Armin Laschet nicht weniger mit Schmutz beworfen – auch und gerade von links –, ja regelrecht demontiert. Und dennoch ist es eine Tatsache, dass die Grünen in besonderem Maße verhasst sind. Neben der AfD sind sie mit der stärksten Ablehnung konfrontiert. Auch werden sie mehr als die anderen Ampelparteien für politische Missstände und Entwicklungen verantwortlich gemacht. Zum Teil mag das berechtigt sein, trägt doch die Regierungspolitik eine ziemlich grüne Handschrift. Doch häufig wird der grüne Einfluss überzeichnet. Auch das dramatische Bild, das da insbesondere von der wirtschaftlichen Lage gemalt wird, für die man grüne Politik verantwortlich macht, ist mitunter hysterisch – und klammert auch aus, dass das Land gerade vor besonderen Herausforderungen steht, etwa wegen Russlands Krieg gegen die Ukraine.

Die Polizeistatistik zu Übergriffen auf Politiker zeigt denn auch, dass die Grünen viel und auch vermehrt einstecken müssen. Zum vollen Bild gehört aber auch, dass wir ein generell aufgeheiztes Klima haben. Gerade die Milieus, die sich um die Grünen einerseits und die AfD anderseits gruppieren, liegen dabei über Kreuz. Überhaupt sehen wir, dass im Sog dieser lautstarken Pole die Debatten insgesamt weggehen von einem Modus, wo die Anerkennung von Gegensätzen und Kompromisse im Vordergrund stehen, hin zu einem des Konflikts, wo man abweichende oder gar gegnerische Meinungen für nicht mehr verhandelbar hält. Das passiert milieuübergreifend. Die digitale Empörungsökonomie spielt bei dieser Aufschaukelung eine große Rolle. Es lässt sich jedenfalls nicht gerade sagen, dass die linksgrünen Milieus ihre blauen Gegner mit Samthandschuhen anpacken. Weder im Netz noch auf der Straße.

Hier zeigt sich, lässt man die normative Bewertung mal weg, ein deutlicher bias in der Berichterstattung. Denn wütenden Blockaden ihrer Veranstaltungen, wie sie gerade die Grünen beklagen, ist die AfD seit ihrem Bestehen ebenso ausgesetzt wie Übergriffen auf Wahlkampfhelfer. Und eben auch körperlichen Angriffen gegen ihr Personal. Bereits Ende der 2010er Jahre, als Gewalt gegen Politiker ein Thema war, vermied man gern den Fakt, dass die AfD davon am stärksten betroffen ist. Und auch heute spielt dieser fortwährende Umstand kaum eine Rolle in den Diskussionen über eine allgemeine Verrohung der politischen Auseinandersetzung. So fanden sich im Spiegel wie auch anderen Medien Darstellungen, wonach die Grünen mit Abstand am meisten von Angriffen auf Parteimitglieder betroffen seien. Die Zahlen beruhen aber auf einer Antwort der Bunderegierung auf eine Kleine Anfrage von AfD-Abgeordneten; und bei genauerer Betrachtung spricht diese eine andere Sprache.

So führt der Spiegel für das Jahr 2023 1.219 Fälle »politisch motivierter Angriffe auf Parteimitglieder« bei den Grünen an – und 478 bei der AfD. In der Quelle sind die Zahlen aber noch unterteilt in Gewalt- und Äußerungsdelikte. Und was Ersteres betrifft, so entfallen hier 86 Vorfälle auf die AfD, 62 auf die Grünen. Von 2019 bis 2023 waren es gar 469 bei der AfD und 209 bei den Grünen. Es kann hier nur spekuliert werden, was die Journalisten dazu verleitet hat, diese zwei verschiedenen Sachverhalte in einer Kategorie abzubilden. Körperliche und verbale Angriffe sind eben von ganz unterschiedlicher Qualität. Deswegen kommen Äußerungsdelikte, als softeste Form des Angriffs, auch ungleich häufiger vor (Grüne: 947; AfD: 236). So wie Brandstiftungs- und Sprengstoffdelikte als intensivste Form am seltensten vorkommen (2019–2023: AfD 8, Grüne 3). In jedem Falle wird hier ein falsches Bild vermittelt, auch weil bei »politisch motivierten Angriffen« eher nicht an Beleidigungen gedacht wird.

Eine korrekte Darstellung wäre also, dass die AfD am meisten körperliche Gewalt beklagt, die Grünen aber aufschließen. Bemerkenswert ist außerdem, dass die Zahlen zu Äußerungsdelikten bei den Grünen regerecht explodieren. Hier ist allerdings aus wissenschaftlicher und auch journalistischer Sicht innezuhalten. Denn es handelt sich hier um gemeldete Fälle, und anders als bei Gewaltdelikten, wo das Meldeverhalten milieuübergreifend relativ ähnlich ist, gibt es in den politischen Milieus starke Unterschiede, was den Umgang mit Beleidigungen und Hassrede betrifft. Es wäre also zu diskutieren, inwiefern hier ein variierendes Meldeverhalten eine Rolle spielen könnte. Diese Frage stellt sich auch deswegen, weil gerade das politische Milieu um die Grünen die größte Sensitivität erkennen lässt, was das Thema Hassrede betrifft. Dazu gehört das wohl weitgefassteste Verständnis, was darunter überhaupt fällt, wie auch der Aufbau von entsprechenden Meldestellen und das Werben für ein aktives Melden solcher Inhalte.

Die Forschung zu diesem Problem ist noch bruchstückhaft, aber es gibt Indizien, warum hier besondere Vorsicht bei der Interpretation der Äußerungsdelikte geboten ist. So zeigt eine frische Studie, dass Leute, die sich politisch rechts verorten, nicht viel weniger Hass im Netz beklagen, als Linke. Zugleich geben 49 Prozent der AfD- und nur 22 Prozent der Grünen-Anhänger an, dass verbale Angriffe, die nicht gegen Gesetze verstoßen, ausgehalten werden müssen, was auf unterschiedliche Sensitivitäten hinweist. Auch hier ist natürlich zu berücksichtigen, dass die Akteure etwas anderes unter Hass verstehen mögen; aber es macht deutlich, dass der Sachverhalt diffizil ist und eine tiefere Betrachtung verlangt. Dabei sind die Äußerungsdelikte im Kontext der aktuellen Debatte ohnehin sekundär, weil ja physische Übergriffe der Anlass dafür sind, von einer Eskalation gegen Grüne sprechen. Umso mehr ist dieses Narrativ ein ziemlich wackliges. Denn es setzt die anti-grünen Übergriffe ins falsche Verhältnis.

Es folgen daraus zwei Probleme: Erstens ist es ein nicht unerheblicher Fakt, dass die AfD am stärksten von Gewaltdelikten betroffen ist. Ihn medial kleinzumachen oder gar zu ignorieren, führt nicht weiter. Im Gegenteil: In den politischen Milieus, wo man sich dieser Realität bewusst ist, dient dies als weiterer Beleg für den manipulativen Charakter der Leitmedien. Und sollte es in Zukunft zu aufsehenerregenden Angriffen auf rechte Politiker kommen, wirkt diese Linie noch unglaubwürdiger. Die AfD wird dann plausibel darauf verweisen können, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wird. Zweitens blockiert diese Linie eine notwendige Diskussion. Man mag etwa linke und rechte Gewalt normativ unterschiedlich bewerten, für eine vernünftige Bewertung müssen die Menschen aber die Fakten kennen. Wer sich nicht darüber bewusst ist, wie die Situation genau beschaffen ist, kommt zu falschen Schlussfolgerungen – auch und gerade mit Blick darauf, was die richtige Strategie im Kampf gegen rechts ist.

Die geschilderte Verzerrung, wie man es mit Noam Chomsky nennen könnte, hilft nicht gegen den Rechtsextremismus. Das betrifft nicht nur das Problem der Glaubwürdigkeit, das dafür sorgen kann, dass sich immer mehr Menschen dem rechtsalternativen Mediensystem zuwenden. Es verbaut auch ein Verständnis davon, warum es zu Übergriffen auf das linke/grüne Politiker kommt. Denn zwischen der Gewalt gegen rechts und der von rechts besteht ein Zusammenhang. Wo AfD-Personal angegriffen und/oder relativiert wird, führt das eben auch zur Normalisierung von Gewalt; es ist eine Quelle der Legitimation für (weitere) rechte Gewalt. Davon zeugen Kommunikate in den sozialen Medien, die mit einer härteren Gangart lediglich Waffengleichheit hergestellt sehen. Umgekehrt kann die Verzerrung auch weitere Gewalt von links legitimieren. Denn wo der Eindruck entsteht, es seien vor allem Politiker im linken Lager von Attacken betroffen, dann mögen dort manche Linke schlussfolgern, dass (mehr) Gewalt gegen rechts nötig sei.

Die Medien können so zu einer Spirale der Gewalt beitragen. Stattdessen wäre es aber nicht nur ihre Aufgabe, die Realität akkurat darzustellen, sondern auch die Rede von der allgemeinen Verrohung ernst zu nehmen, also auf beide Seiten kritisch zu schauen. Wie auch beim Thema Hass im Netz sollte das Problem mehr als eines der Polarisierung begriffen werden. Diese mag in Deutschland nicht so ausgeprägt sein wie in den USA, wo ein Zweiparteiensystem die Blockbildung begünstigt. Aber auch im hiesigen stratifizierten System sehen wir in Form sozio-politischer Milieus zwei Pole, deren Konfliktgebaren die Allgemeinheit in Mitleidenschaft zieht, so dass die deliberative Kultur Schaden nimmt. Das ist die Perspektive, die in den Medien mehr Raum benötigt. Und sie verlangt eine differenzierte Debatte auch über Hass und Gewalt von links, die sich nicht in der Plattitüde erschöpft, dass die Intoleranz nicht toleriert werden darf. Auch das Popper‘sche Toleranz-Paradoxon ist deutlich komplexer, als es seine Verwurster darstellen.

Siehe dazu auch: »Tagesschau« vom 27. Februar 2024, auf: Tagesschau, 27. Februar 2024 (online hier)