Memo: Im Sog der eifrigen Vereinfacher

Im Juni letzten Jahres sprach ich ausführlich mit Philipp Hübl, der sich mit Fragen der Polarisierung aus moralpsychologischer Perspektive befasst. Das Gespräch mit dem Philosophen, dessen Buch »Moralspektakel« vor Kurzem erschienen ist, diente dazu, mir ein besseres Verständnis von der Psychologie des Lagerdenkens zu verschaffen, das einerseits ein homogenes Äußeres und andererseits ein homogenes Inneres konstruiert. Insbesondere interessierte mich, wie der gruppendynamische Eifer zustande kommt, politische Probleme stark zu vereinfachen und Aussagen anderer zu vereindeutigen. Im Mittelpunkt stand dabei der Umgang mit Kommunikaten von (vermeintlichen) politischen Gegnern, die gerade im digitalen Kontext häufig maximal negativ ausgelegt werden, so dass ein moralischer Druck erzeugt wird, von differenzierten Perspektiven Abstand zu nehmen. Konkreter Anlass des Gesprächs waren zwei Botschaften in den sozialen Medien, die in genau dieser Weise polarisierend wirkten: zum einen der Pfingstgruß des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Kai Wegner, dem linkerseits unterstellt wurde, sich damit fremdenfeindlich geäußert zu haben; und zum anderen eine polizeikritische Note der (damaligen) Polizeihochschuldozentin Bahar Aslan, der rechterseits unterstellt wurde, die Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden pauschal diffamiert zu haben (für weiteren Kontext siehe hier). Da das Gespräch – geführt am 20. Juni 2023 – weiterhin sehr erhellend ist, um aktuelle gesellschaftspolitische Dynamiken zu verstehen, soll es hier in Gänze dokumentiert sein.

Hübl: Das sind zwei sehr gute Beispiele dafür, wie Leute eine Aussage nicht wohlwollend lesen. Normalerweise, im alltäglichen Gespräch, nimmt man ja erstmal nicht an, dass der Gegenüber böse Absichten oder eine hinterhältige Einstellung hat, wenn man dessen Aussagen interpretiert. Sagt jemand etwas, das spontan provokant erscheint, geht man normalerweise davon aus, dass er sich vielleicht unglücklich ausgedrückt hat, oder dass man einen Satz auch einfach unterschiedlich verstehen kann. Man bezeichnet das als principle of charity, das Prinzip des Wohlwollens, also als eine karitative, wohlwollende Lesart. Und wenn man sich nun den Fall Wegner anschaut und das Gesagte wohlwollend liest, dann ist klar: Der hat seinen Pfingstgruß an alle Berliner gerichtet, aber auch an die Gäste, weil es in der Hauptstadt, insbesondere über die Feiertage, viele Touristen gibt. So versteht man das, wenn man ihm keine bösen Absichten unterstellt. Viele haben es dann aber so interpretiert, als würde er sagen wollen, ein Teil derer, die in Berlin leben, seien nur Gäste – also im Sinne von: nicht vollwertigen, nur geduldeten Bürgern –, obwohl das aus den Worten überhaupt nicht deutlich wird.

Hübl: Bei Aslans umstrittener Aussage wiederum wäre eine wohlwollende Lesart, dass sie nur einen Teil der Polizei meinte, wenn sie von »braunem Dreck« sprach. Doch obwohl sich das völlig plausibel so lesen lässt, wurde es von einigen so hingestellt, als habe sie damit die ganze Polizei gemeint. Dabei wäre es doch irrsinnig, wenn jemand, der an einer Polizeihochschule unterrichtet, behaupten würde, dass alle Mitglieder der Polizei – also rund 300.000 Polizisten – zum rechtsextremen Sumpf gehörten. Es ist also irgendwie schon klar, dass es ihr nur um eine Teilgruppe innerhalb der Polizei ging, vor der man Angst haben müsse; und doch wurde ihr etwas ganz anderes vorgeworfen. Mitunter bekam man dabei den Eindruck, dass die Aussage absichtlich falsch gelesen wurde, um sich künstlich zu empören und Aufmerksamkeit zu schaffen.

Hübl: Guter Punkt. Man muss hier natürlich ergänzen, dass es da ein Spektrum gibt – und auf diesem gibt es alles. Darunter gibt es selbstverständlich auch Leute, die das wirklich so verstehen und sich sozusagen aufrichtig empören. Aber Studien zeigen eben auch, dass Empörung zuweilen zur Selbstdarstellung verwendet wird. Immerhin können wir, wenn wir uns über angeblich schlimme Dinge empören, indirekt ausdrücken, wie moralisch sensibilisiert wir doch sind. Das ist auch keinem politischen Lager speziell vorbehalten, sondern findet sich mittlerweile auf allen Seiten – auch wenn die Gegenstände der Aufregung andere sind. Grundsätzlich gibt es jedenfalls eine Tendenz zur moralischen Selbstdarstellung durch Empörung. Ob das absichtlich ist, lässt sich im Einzelfall natürlich nicht sagen, weil wir nicht in die Köpfe der Leute gucken können. Aber tendenziell zeigt sich: Wenn man schon bei kleinen Normverletzungen, zum Beispiel wenn in einem Interview, einer Stellungnahme oder einem Tweet ein paar vermeintlich falsche Worte gefallen sind, nicht in Betracht ziehen kann, dass es sich auch anders lesen lässt, dann ist man definitiv nicht wohlwollend gegenüber dem Sender der Aussage.

Hübl: Vollkommen richtig. Deshalb muss man auch vorsichtig sein im Urteil darüber, was den Einzelnen bei seiner Kommunikation antreibt. Das ist ja ein grundlegendes Problem: dass man die Absichten hinter etwas Gesagtem immer nur zuschreiben und nicht eindeutig feststellen kann. Man denke hier etwa an Fälle vor Gericht. Da spielt Absichtlichkeit, also der Vorsatz, eine wichtige Rolle beim Strafmaß. Aber die wahre Absicht kennen nur die Angeklagten selbst – und die sagen nicht immer die Wahrheit. Also findet die Zuschreibung anhand von Handlungen, also dem Verhalten der Person, statt. Und da kann man bei der Bewertung nun mal falsch liegen.

Hübl: Ja, genau. Mittlerweile wissen ja auch Politiker, dass sich mit den gemischten Reaktionen arbeiten lässt. Gerade im Populismus ist es ja eine beliebte Methode, mehrdeutige Dinge zu sagen, also absichtlich so zu kommunizieren, dass sich das Gesagte in die eine oder andere Richtung lesen lässt. So hat man dann eine Rückzugsmöglichkeit. Sobald dann ein Vorwurf kommt, stellt man sich als Opfer dar: Man habe doch alles ganz anders gemeint, es würde hier absichtlich übertrieben.

Hübl: Klar, der ist immer schwer zu erbringen. Nehmen wir dogwhistling. Damit meint man eine Aussage, die von einer Gruppe so und von einer anderen so verstanden werden kann, etwa weil eine Gruppe in dem Gesagten eine Chiffre für eine bestimmte Überzeugung sieht – wie die Hundepfeife, die nur der Hund hören kann. Wenn zum Beispiel ein Politiker von bestimmten jungen Männern spricht, dann kann es schon sein, dass eine eher rechte Gruppe damit solche mit Migrationshintergrund assoziiert. Formal wurde aber derartiges nicht gesagt. Und andere Teil der Gesellschaft würden sie entsprechend so auch nicht verstehen, sondern vielleicht so, dass es eben schlecht erzogene Männer gibt, die häufiger gewalttätig sind als andere. Denn wörtlich genommen ist die Aussage neutral. Ob das wirklich eine diskriminierende Botschaft zulassen sollte, die absichtlich gewählt wurde, können wir also nie mit völliger Sicherheit wissen; es bleibt eine Unterstellung.

Hübl: Hier ist nochmal der Blick auf das Strafrecht interessant, in dem man verschiedene Abstufungen kennt. Absicht ist da die stärkste Form des Vorsatzes. Und wenn so ein Fall vorliegt, also jemand den Tatbestand bewusst geplant und verwirklicht hat, wird das auch am stärksten bestraft. Darunter angesiedelt ist der indirekte Vorsatz, wenn jemand eine Tat billigend in Kauf nimmt. Übertragen auf unser Thema heißt das zum Beispiel, dass jemand seine Wut raushaut, obwohl er wissen kann, dass es wahrscheinlich anders verstanden wird, ihm dieses Problem aber egal ist. Und dann gibt es natürlich auch noch Fahrlässigkeit: Da ist man einfach unachtsam in der Wortwahl. Natürlich gibt es oft auch in der Politik rhetorisch geschulte Leute, die im Eifer des Gefechts, etwa einem Interview, ihre Worte schlecht wählen, einen Formulierungsfehler oder eine unbedachte Äußerung von sich geben. Und wenn man jetzt noch von der Fahrlässigkeit abstuft, dann haben wir es mit einem Umstand zu tun, wo es einer Person nicht einmal bewusst ist, dass ihre Aussagen auch problematisch gelesen werden können, wo sie also aufrichtig empört ist und gar nicht merkt, dass die Überprüfungsfilter da versagen.

Hübl: Ja, genau. Man fragt sich dann, bevor man sich richtig aufregt, gar nicht, ob etwas wirklich so und nicht anders gemeint war. Andere Interpretationsmöglichkeiten sind da ausgeschaltet. Die Empörung passt zur eigenen Identität und bestätigt sie gleichzeitig. Womöglich ist das sogar der Normalfall. Wir fallen häufig auf unsere eigenen Vorurteile herein. Da steckt hinter der Interpretation keine böse Absicht, wir haben halt Voreinstellungen, die wir bestätigt sehen wollen.

Hübl: Grundlegend dafür ist eine moralische Identität, die wir schützen wollen. Wir haben – auch erstmal unabhängig von einem Gruppenkontext – bestimmte Werte, die uns wichtig sind; und wenn diese in Frage gestellt werden, reagieren wir sehr stark, wie verschiedene Versuche gezeigt haben. Und dann gibt es noch eine zweite Phänomenebene: Wir identifizieren uns mit einer Gruppe, und zugleich identifizieren wir unsere moralische Identität dann mit der Gruppenidentität. Und sobald Leuten sich sehr stark einer Gruppe zuordnen bzw. eine sehr starke Gruppenidentität entwickeln – ob links oder rechts, Fahrradfahrer oder Autofahrer, Veganer und Fleischesser; es gibt ja sehr viele moralische Stämme auf dem Markt, denen man sich zuordnen kann –, dann fängt man automatisch an, die wahrgenommene Gegengruppe nicht mehr so wohlwollend zu interpretieren.

Hübl: Für den amerikanischen Kontext ist das bereits gut untersucht. Da kann man – vermutlich auch begünstigt durch die Zweiparteienstruktur – eine sehr polarisierte Gesellschaft beobachten, in der ein beträchtlicher Teil der Demokraten oder Republikaner sagt: Ich möchte nicht neben jemandem leben, der der anderen Partei angehört, oder mit so einem zusammenarbeiten; ich will auf keinen Fall, dass so jemand in meine Familie einheiratet, usw. Also das sind ganz starke Abneigungen, eine affektive Polarisierung, bei der es nicht mehr nur darum geht, dass man die Politik der Anderen nicht mag oder sie für falsch hält – was ja legitim ist –, sondern es sind ausgeprägte Emotionen, die sich auch physisch und sozial auswirken.

Hübl: Richtig. Und es basiert auf Fehleinschätzungen. Das haben der Kognitionswissenschaftler Hugo Mercier und Kollegen gut gezeigt. In einem Test haben sie etwa Wähler der jeweiligen Lager gefragt, wie sie die Einstellungen der politischen Gegner zu bestimmten Fragen beurteilen. Zum Beispiel, an Demokraten gerichtet: Glaubst du, ein Republikaner würde eine Frau oder einen Schwarzen zum Präsidenten wählen? Weniger als die Hälfte der Demokraten glaubte, dass Republikaner so tolerant seien. Doch wenn man Republikaner selbst befragt, wie sie dazu stehen, zeigen sich über 90 Prozent offen dafür. Überhaupt sind sie mit Blick auf ethnische Minderheiten gar nicht so unaufgeschlossen. Was sie überhaupt nicht gerne wählen, sind Sozialisten und Atheisten; weniger als die Hälfte der Republikaner würden die zum Präsidenten wählen. Aber gerade bei Gruppen, von denen man glauben würde, dass die Republikaner da besonders negativ eingestellt sind, fällt die Abneigung gering aus: Über 90 Prozent würden einen Hispcanic, Juden oder Katholiken zum Präsidenten wählen. An diesem perception gap sieht man, wie stark die Fremdwahrnehmung und die tatsächlichen Daten auseinandergehen.

Hübl: Ich glaube, in kleinerem Maße gibt es das in Deutschland auch, also starke Vorurteile gegenüber anderen politischen Gruppen. Die Zeit führt seit einigen Jahren das Experiment »Deutschland spricht« (inzwischen auf der ganzen Welt) durch, bei dem man Leute zusammenbringt, die bei einem politischen Thema weit auseinander stehen – und sie dann zu zweit miteinander diskutieren lässt. Die ersten Runden wurden von Sozialwissenschaftlern begleitet, und die fanden heraus, dass die Leute, die über hot topics wie Tempolimit oder Gendern reden sollten, erstmal Vorurteile hatten, als sie mit der Gegenposition konfrontiert wurden, nach dem Gespräch ihr Gegenüber aber deutlich sympathischer fanden. Also manchmal hilft tatsächlich Reden miteinander, um Vorurteile abzubauen.

Hübl: Das ist ein guter Hinweis. Länger hat man ja bei der Polarisierungsdebatte vieles in einen Topf geworfen. Aber man sollte da unterscheiden. Zum einen gibt es die politische Polarisierung, die sich etwa in unterschiedlichen normativen Positionen zeigt und vielleicht sogar ganz gut für den demokratischen Diskurs sein kann, weil das bedeutet, dass alle Ansichten im öffentlichen Spektrum vertreten sind. Zum anderen gibt es die affektive Polarisierung; und die hat eine neue Qualität, weil es da nicht nur um die Kritik bzw. Ablehnung von Positionen geht, sondern immer häufiger auch darum, dass man den ganzen Menschen ablehnt, also mit der Gegenseite nichts zu tun haben, ja nicht mal diskutieren möchte. Schon vor der digitalen Zeit, in den 1970er Jahren, gab es Untersuchungen zu jenem Phänomenbereich, den man heute mit Begriffen wie der »Echokammer« verbindet. David G. Myers nannte das damals pluralistic ignorance, also sinngemäß »kollektives Nichtwissen«: ein Konzept, das ein wenig verwandt mit Elisabeth Noelle-Neumanns Theorie der Schweigespirale ist. Beide Ideen gehen von der Beobachtung aus, dass Menschen eine bestimmte Vorstellung davon haben, wie die eigene Gruppe so denkt – und auch, wie andere, möglicherweise antagonistische Gruppen denken. Aber man kennt natürlich weder von der eigenen noch von der fremden Gruppe die meisten Leute. Es bleibt also nur eine Art Vermutung, wo die Gruppen etwa moralisch zu verorten sind. Dabei wird zum einen die eigene Gruppe häufig als extremer eingeschätzt, als sie tatsächlich ist (man hält also die anderen in der eigenen Gruppe für moralisch strenger als sich selbst), aber auch die Gegengruppe schätzt man in der Regel zu rigide ein. Allerdings kann das Problem abgemildert werden, sagt Myers, wenn die Gruppen nicht untereinander bleiben, sondern ihre Mitglieder miteinander reden. Mit den digitalen Medien stellt sich die Frage natürlich etwas anders.

Hübl: Ja, es funktioniert stark tribalistisch. Michael Bang Petersen hat zu dieser Frage Erhellendes beigetragen. Das ist der Politikwissenschaftler, der die Pandemie in Dänemark öffentlich begleitet hat und auch als Berater der Regierung fungierte – ähnlich wie Christian Drosten hierzulande. Und der hat untersucht, warum viele Leute immer so starke Thesen vertreten. Also so etwas wie »Lügenpresse« oder »Umvolkung« auf der einen Seite. Oder zum Beispiel, auf der anderen Seite, wenn man eine Minderheit gleich vom Genozid bedroht sieht.

Hübl: Ja, genau. Solche starken Thesen gibt es auch auf der linken Seite. Die Frage ist nun, ob die Leute, die so etwas aussprechen, das allen Ernstes auch annehmen. Laut Petersen ist das bei vielen nicht der Fall. Also die meisten glauben nicht buchstäblich an so etwas wie eine Lügenpresse; es ist vielmehr ein Schlachtruf ihres politischen Stamms, um den dieser sich versammeln kann. Es fungiert als Schlagwort, über das man Aktionen gegen den politischen Gegner koordiniert. Deshalb machen da einige Beobachter einen Fehler, wenn sie aus der Verwendung des Schlagworts auf eine extreme Einstellung schließen. Sie sind sozusagen nicht karitativ genug, um in Betracht zu ziehen, dass es für viele bloß eine rhetorische Übertreibung ist.

Hübl: Genau. Und die einen machen sich darüber Sorgen, andere eher darüber, dass Minderheiten schlecht behandelt werden – und es gibt auf beiden Seiten die Tendenz, das zu pointieren und zu überspitzen. Weil wenn man ein Anliegen hat, das einem wichtig ist, dann will man auch gehört werden.

Hübl: Ja, und deswegen muss man differenzieren: Wie groß ist der Anteil derer, die das bloß als Schlachtruf verwenden – und wie groß ist der Teil derer, die den Schlachtruf wiederum für bare Münze nehmen. Bei Petersen ist die Beobachtung, dass sich Leute vorwiegend so eingestellt sind, dass sie sich zwar mit dem Schlachtruf identifizieren, aber nicht buchstäblich daran glauben.

Hübl: Absicht wird auch da sicher eine Rolle spielen, etwa bei Akteuren, die damit die Empörung strategisch anheizen wollen. Aber was die negative Dynamik des Schwarms wohl stärker antreibt, ist das, was Kontextzusammenbruch (context collapse) genannt wird. In einem Kontext, in dem man sich persönlich kennt oder zumindest mit den betreffenden Akteuren besser vertraut ist, gibt es ein gewisses Hintergrundwissen. Man kann die Auffassungen und Denkweisen der anderen gut einschätzen. Gerade in einer normalen, mündlichen Kommunikationssituation rutscht jedem auch mal ein Versprecher, ein Irrtum oder eine unklare Aussage raus. Und da kann man trotzdem recht gut einordnen, wie das eigentlich gemeint ist, obwohl es mehrere Interpretationsmöglichkeiten gibt: War das jetzt ein Witz oder war es ernst gemeint? Höre ich da Ironie heraus? War das rhetorisch zugespitzt? Aber in der digitalen Kommunikation stehen Aussagen von Akteuren oft ganz ohne den Kontext da. Gerade wenn es um Informationsschnipsel geht, die aus dem inhaltlichen oder auch nur zeitlichen Zusammenhang gerissen sind, sind vielen die Umstände nicht klar, so dass sie die Absichten des Sprechers nicht gut einschätzen können.

Hübl: Das ist das Problem. Sie kennen die wirklichen Absichten nicht. Sie nehmen vielmehr die Äußerungen nur für sich und denken sich unbewusst die passenden Absichten hinzu. Aber für sich genommen klingen viele Sprüche furchtbar und werden erst durch den Kontext als zum Beispiel ironische Spitze erkennbar. Genau das wird aber erschwert durch die Kommunikation in den sozialen Medien, in denen Menschen aus unterschiedlichen Kontexten aufeinanderprallen. Und gleichzeitig ist das Umfeld auch noch kontextarm: Man nimmt häufig nur ein paar Schlagworte wahr und weiß oft gar nicht, wer die sprechende Person ist, aus welcher Situation heraus sie die Äußerung getätigt hat. Die Kontextarmut verleitet also zum Falschverstehen und zur Vereindeutigung.

Hübl: Ein Beispiel, an dem sich das gut verdeutlichen lässt, ist die Bezeichnung person of colour. Mal angenommen, man kennt die Geschichte der Schwarzenbewegung in Amerika nicht, dann könnte man in diesem Begriff und der Bezeichnung coloured person einfach nur zwei grammatische Varianten desselben Inhalts sehen: einmal attributiv, einmal prädikativ. Aber sobald man den Kontext kennt, weiß man, dass Letzteres vielen als Fremdzuschreibung gilt, die eine bestimmte Geschichte hat. Das andere gilt hingegen als eine Selbstbeschreibung, die später etabliert wurde, um sich von Ersterem abzuheben. Ohne den Kontext könnte man also leicht denken, die Begriffe seien austauschbar. Ist er hingegen bekannt, sind sie moralisch enorm aufgeladen. Dass kann dazu führen, dass etwas Gesagtes von einer Gruppe als völlig falsch wahrgenommen wird, den Angehörigen einer anderen Gruppe aber als terminologisch korrekt gilt. Welche Emotionen ein Begriff bei anderen auslösen kann, lässt sich nur erahnen, wenn man den Kontext der anderen mitbedenkt.

Hübl: Also beides hat erstmal mit der Frage zu tun, ob es eine gewisse Bereitschaft und Fähigkeit gibt, sich bei der Interpretation von etwas Gesagtem nicht zu sehr festzulegen. Grundsätzlich war mit Ambiguitätstoleranz erst einmal gemeint, ob man es aushalten kann, wenn bestimmte Dinge nicht klar kategorisierbar, vielleicht sogar widersprüchlich sind. Ambiguitätstoleranz ist daher ein Merkmal, dass man eher mit dem progressiven Denken in Verbindung bringen würde, das einst die starren Kategorien konservativen Denkens aufgebrochen hat.

Hübl: Ja, Bauer meint, dass es in unserer Zeit weniger Ambiguitätstoleranz gäbe. Da würde ich aber entgegenhalten, dass die Gesellschaft durchaus toleranter geworden ist. Also früher konnten die Menschen nicht damit umgehen, wenn zum Beispiel andere Menschen sichtbar homosexuell waren oder wenn sich Frauen nicht wie Frauen und Männer nicht wie Männer angezogen haben. Die Menschen waren viel rigider in ihren Kategorien. Insgesamt sind wir deutlich offener geworden, auch wenn sich das in den Teilen der Bevölkerung unterschiedlich verteilen mag. In der politischen Kommunikation bildet sich das aber nicht unbedingt ab. Da beansprucht jede Gruppe für sich eine moralische Klarheit, so dass man dem anderen keine Mehrdeutigkeit zugestehen kann im Sinne von: Das, was die Person da macht, finde ich nicht so gut, aber auch nicht so schlimm, dass ich ihren Charakter verurteilen muss. In der öffentlichen Diskussion vor Publikum sind wir also deutlich rigider; es findet bei Urteilen kaum eine Feinnuancierung statt, wie man es etwa von Gerichten kennt: War das nun Absicht oder nicht, war es ein Vergehen oder ein Verbrechen, welches Strafmaß genau ist angemessen? Und es zeigt sich auch, dass die Progressiven da sogar etwas strenger und weniger nachsichtig sind, wenn jemand andere moralische Vorstellungen hat. Studien in den USA und Deutschland zeigen, dass sie, die häufig einen akademischen Hintergrund haben, etwas absoluter denken als Leute ohne akademische Bildung, also häufiger meinen, dass sie sich niemals in ihren Werten und Normen irren könnten. Insgesamt sind Progressive weniger tolerant gegenüber Konservativen als umgekehrt.

Hübl: Ja! Denn ganz gleich, wie gut man etwas durchdacht hat: Man kann sich trotzdem irren. Und wenn man das nicht als Möglichkeit berücksichtigt, dann spricht das für eine rigide Moral. Und dass man eine moralische Uneindeutigkeit akzeptieren kann, das ist momentan keine Eigenschaft der Progressiven – und durchaus eine Frage der Ambiguitätstoleranz. Der Ambiguitätsbegriff ist im Übrigen ja selbst uneindeutig: Mal meint er Mehr- oder Uneindeutigkeit, mal Vielfalt, mag Vagheit. Er ist also nicht klar eingrenzbar, meint aber in jedem Fall das Gegenteil der Eigenschaft, sehr klare Grenzen ziehen zu wollen – wobei der Begriff auf verschiedene Phänomene Anwendung finden kann. Ich selbst glaube, dass Ambiguitätsintoleranz im Politischem momentan stärker arbeitet, während es im Alltagsleben toleranter zugeht. Da haben wir nicht mehr so sehr das Problem, dass sich Leute etwa über die Kleidung anderer empören.

Hübl: Weil viele Aussagen nicht messerscharf getroffen werden können. In den quantitativen Naturwissenschaften etwa können wir sehr exakte Aussagen treffen. Viele Aussagen im Alltag funktionieren so aber nicht. Sie könnten potentiell immer noch ein bisschen genauer sein. Und deshalb müssten wir eigentlich in ganz vielen Fällen einfach nachfragen: Was ist jetzt genau damit gemeint? Meinst du mit Gästen jetzt wirklich Touristen? Oder bezeichnest du Menschen mit Migrationshintergrund als Gäste, wie man früher von Gastarbeitern gesprochen hat? Oder meinst du sogar etwas ganz anderes? Praktisch geht das aber nicht, weil etwa Herr Wegner gar nicht die Zeit dafür hat. Aber es gibt viele Leute, die wollen Mehrdeutigkeiten zügig auflösen und Klarheit haben, während andere es durchaus aushalten, wenn die Dinge moralisch nicht so klar einteilbar sind. Zwar gibt es durchaus eindeutige Fälle, solche also, wo weitestgehend moralischer Konsens herrscht: Etwa ein Kind zum Spaß zu quälen, ist immer falsch und absolut verboten. Aber im politischen Alltag gibt es ganz viele Abwägungsfragen. Wird etwa ein Gesetz geändert, ist die Frage: Wer profitiert davon, zu wessen Nachteil ist es? Und häufig geht es auch um eine Balance, etwa von Freiheit und Sicherheit während der Pandemie.

Hübl: Da waren selbst die Milieus, denen Sicherheit eigentlich ganz wichtig ist, beim Thema Schulschließungen dann zerstritten. Dabei sind diese Abwägungsfragen sehr komplex, aber wenn man Leute mit solchen schwierigen moralischen Problemen konfrontiert, wollen viele da schnell raus. Ich merke das häufig bei meinen Studenten. Wenn ich denen solche schwierigen Fragen gebe, dann interpretieren sie diese immer neu, statt sie zu lösen. Sie wollen nämlich nicht mit Problemen konfrontiert sein, bei denen keiner gut rauskommt am Ende, zum Beispiel, wenn man in einem Dilemma steckt und nur die Wahl zwischen zwei schlechten Alternativen hat. Das mögen sie nicht, sie bevorzugen moralische Klarheit. Der Alltag ist aber unordentlich, nicht klar und durchsichtig, und auch die Menschen sind immer schon fehlbar gewesen. Viele Dinge, die wir tun, sind moralisch nicht rein und haben verschiedene Graustufen.

Hübl: Gut, dass du das ansprichst. Also ich beobachte das auch bei mir selbst. So in der Art: Ich bin ja kein CDU-Wähler, aber das geht jetzt zu weit. Man antizipiert da sozusagen das tribalistische Moment, weil man schon weiß, dass sonst der Gegenüber in seiner Stammeslogik dich gleich der anderen Seite zurechnet. Dabei müsste es in einer öffentlichen Diskussion doch möglich sein, auf die richtige Wiedergabe einer Position zu bestehen, auch wenn man sie nicht teilt: eine höhere Moral, gewissermaßen. Aber auch Tribalismus hat, auf profanere Weise, etwas mit Moral zu tun. Natürlich nicht im Sinne einer philosophisch durchdachten Ethik, die sich aus Prinzipien ableitet, sondern im Sinne einer emotionalen Alltagsmoral. Empörung ist ja moralischer Zorn. Denn wenn jemand verurteilt wird, für das, was er gesagt hat, findet immer eine moralische Wertung statt. Es geht dabei ja darum, dass es falsch sei, was die Person gesagt hat, weil etwa ein bestimmter Wert verletzt worden sei. Insofern lässt sich das schon dem Bereich der Moral zuordnen. Andererseits aber kann man auch sagen, dass da häufig ein Kulturkampf stattfindet. Es geht häufig ja gar nicht um die echten Missstände in der Welt, um ihre Diagnosen und möglichen Lösungen. Anstelle solcher substantiellen Fragen geht es sehr viel um temperamentvolle Auseinandersetzungen auf einer sprachlichen oder symbolischen Ebene, zum Beispiel, ob man jetzt die richtigen Worte gewählt hat. Das sind Dinge, die gar keinen Einfluss auf die eigentlichen Probleme haben, ob sie nun richtig oder falsch ausgedrückt werden.

Hübl: Das gehört dazu. Man ist aber nicht immer nur Tribalist. Man hat ja auch mit seinen Freunden und Bekannten immer wieder moralische Themen. Etwa: Warum bist du nicht zuverlässig, kommst immer zu spät zu Verabredungen? Wir handeln unsere moralischen Normen also ständig mit anderen Menschen aus. Das ist nicht tribalistisch motiviert. Es gibt aber noch diese zweite Ebene, die insbesondere im gebildeten Teil der Bevölkerung ausgeprägter ist. Studien zufolge sind Akademiker häufiger politische Hobbyisten. Sie interessieren sich viel mehr für Politik und für Themen, die nicht unmittelbar mit ihrem Leben zu tun haben. Viele Menschen haben hingegen gar nicht so eine starke politische Identität; die haben zu vielen politischen Fragen gar keine Meinung. Es gehört also ein wenig zu den akademischen Milieus dazu, dass wir unbedingt Position beziehen wollen zu vielen Fragen, weil wir meinen, das gehöre zu unserer Selbstinszenierung dazu.

Hübl: Genau. Man kann sich ja gar nicht in all diesen Dingen gut auskennen, hat aber trotzdem gerne eine starke Meinung. Und dann verbindet man sich vielleicht auch stärker mit einem Lager, ist für dieses Stammesdenken sehr anfällig. Ist man da erstmal hineingezogen, hat man ganz schnell das Gefühl, dass man jetzt seine eigene Gruppe verteidigen muss, und sieht die anderen als etwas gemeiner an, als sie wirklich sind.

Hübl: Ja, gerade vermittelnde Positionen haben es schwierig. Nehmen wir etwa das Thema Einwanderung. Laut Sozialbericht der Bundesregierung haben vor 25 Jahren mehr als 20 Prozent der Deutschen gesagt, es solle niemand nach Deutschland kommen. Heute liegt der Wert bei unter zehn Prozent. Das ist, einfach gesagt, der rechte Rand. Und auf der linken Seite ist es genau umgekehrt: Da haben vor 25 Jahren etwas mehr als zehn Prozent gesagt: Macht die Grenzen ganz auf, jeder soll nach Deutschland kommen dürfen. Das sind mittlerweile über 25 Prozent geworden. Dazwischen gibt es etwa 65 Prozent der Deutschen, die eine Mittelposition einnehmen: Man solle Leute aufnehmen, aber auch nicht jeden, der kommt. Das ist die überwiegende Mehrheit, aber die hat es am schwierigsten. Wenn diese Leute sagen, wir sollten Einwanderung begrenzen, klingen sie für einige wie Rechtsradikale. Wenn sie sagen, wir sollten auch Wirtschaftsflüchtlinge aufnehmen, klingen sie für andere wie Linksradikale. Mit ihrer Mittelposition müssen sie daher stets weiter ausholen und viel mehr Worte verlieren. Sie sind strategisch gewissermaßen im Nachteil. Die Extremen müssen nur sagen, dass sie für oder gegen Einwanderung sind, für offene oder geschlossene Grenzen. Das lässt sich quasi in zwei Worten sagen. Und dieses Problemschema lässt sich auf viele Themen übertragen. Wenn jemand etwa verkündet: »Mit vielen Punkten Wegners stimme ich nicht überein, aber das, was er da gesagt hat, das finde ich absolut in Ordnung, dann ist das recht weit ausgeholt.« Andere sagen da einfach: Das ist doch fremdenfeindlich! Und diesen strategischen Nachteil, den bekommt man leider nicht weg. Wenn man etwas Nuanciertes sagen will oder etwas, das sich nicht eindeutig einer Gruppe zuordnen lässt, dann muss man viel reden, während der andere mit seiner Aussage schon durch ist.

Hübl: Die digitalen Medien verstärken bestimmte Neigungen, die wir ohnehin schon haben. In der Urhorde der frühesten Menschen oder auch noch vor 30 Jahren hat man sich meistens über Personen im Freundes- und Bekanntenkreis empört, wenn die moralisch was falsch gemacht haben. Das war auch wichtig, um untereinander Kooperation zu garantieren, weil man damit signalisiert hat: Du hast eine Norm verletzt. Da konnte man sich aber entschuldigen und das Fehlverhalten wieder gutmachen. Bei extremem Fehlverhalten gab es vielleicht auch eine Strafe. Die konnte man aber absitzen und wurde danach wieder Teil der Gemeinschaft. Man kennt das auch im Privaten, etwa wenn man sich mit seinem Partner streitet. Der kann daraufhin sein Verhalten ändern; man passt sich an.

Jetzt haben wir eine neue Sphäre, wir leben nicht mehr nur im Dorf oder Kiez, sondern die ganze Welt ist zum digitalen Dorf geworden, in dem alle miteinander verbunden sind. Und wenn man da denselben Mechanismus laufen lässt, dann hat dieser nicht mehr die Funktion, den anderen in die Gemeinschaft zurückzuholen, ihm die Chance zu geben, sich zu entschuldigen oder etwas auszugleichen. Jetzt hat es nur doch die Funktion, die Leute auszuschließen, aus dem Diskurs etwa, oder den anderen zu zeigen, dass man auf der richtigen Seite steht. Ein typischer Fall von Fehlanpassung: Da wird also ein ehemals funktionaler sozialer Mechanismus durch die digitalen Medien in etwas Dysfunktionales überdreht.

Hübl: Genau. Den hat man früher zu spüren bekommen von den wenigen Leuten, die man kannte. Heute aber ist das ein viel anonymerer Konformitätsdruck. Man vermutet die ganze Zeit: da beobachten mich ganz viele Leute. »The World is watching«, sagen einige ganz explizit.

Hübl: Das sehe ich auch so, das gibt der moralischen Selbstdarstellung nochmal eine neue Dynamik. Menschen haben eben den Wunsch nach Anerkennung. Als Kind ist man etwa hilfsbereit oder macht einen Witz und man merkt, das finden viele toll. Da hat man schon ein Gefühl dafür, wie das ankommt, mehr oder weniger. Doch im Digitalen kann das jetzt jeder auf Zahlen herunterbrechen, die oft einen großflächigen Vergleich ermöglichen und auch einen Eigenwert erhalten. Und da merkt man dann, dass man etwa für moralisch aufgeladene Tweets mehr Aufmerksamkeit bekommt. Laut Studien verbreiten sich Postings mit emotional-moralischen Begriffen wie »Schande« oder »ernsthaft???« 20 Prozent mehr als andere. Menschen klicken das dann häufiger, was sich dann wiederum in den Algorithmen niederschlägt. Auch das spüren die User bewusst oder unbewusst, dass sie so mehr Engagement erzeugen.

Hübl: Ja, das ist ein zentraler Mechanismus. Also man kann damit sichtbar zeigen, zur richtigen Gruppe zu gehören. Und man kann da eine Art Übersteigerungsdynamik beobachten: das moral grandstanding, wie es die Philosophen Justin Tosi und Brandon Warmke nennen, also sinngemäß die moralische Effekthascherei. Damit ist gemeint: Wenn man sich hervortun möchte mit einem moralischen Signal, aber alle anderen regen sich schon auf, dann kann man die übliche Empörung nicht einfach wiederholen; man muss die anderen überbieten. So findet dann eine Art Wettrüsten statt, mit immer höheren Empörungsstandards. Der erste sagt noch: Das ist ja unerhört! Und der nächste dann: Der dürfte gar nicht Bürgermeister sein, der muss seinen Posten verlieren! Diese teilweise absurden Forderungen bei wirklich minimalen oder gar nicht mehr erkennbaren Normverletzungen – zum Teil sind es ja nur Fehlinterpretationen –, die rühren eben daher, dass man ein starkes Signal an die eigene Gruppe senden möchte, dass man wirklich auf der richtigen Seite steht.

Siehe auch: Forschungsstelle BAG »Gegen Hass im Netz« feat. Philipp Hübl, »Prinzip der böswilligen Interpretation. Empörung als moralisches Kapital im digitalen Lagerkampf«, in: Machine Against the Rage, Nr. 3, Sommer 2023 (online hier).