Memo: Linke Irrungen und Wirrungen

Es ist vollbracht. Mit der Veröffentlichung von Zurück nach vorn im Alibri-Verlag schließen Felix Zimmermann und ich unsere grundlegenden Überlegungen zum Konzept des Sozialrepublikanismus ab. Diese Druckfassung enthält denn auch das neunte Kapitel des Panoramas, dessen vorherigen Teile bisher seriell online veröffentlicht wurden. In der Online-Version wird jenes letzte Kapitel erstmal nicht zu finden zu sein. Wir werden es aber nach einer Weile auch dort zugänglich machen.

Jedenfalls bleibt es auch in der Druckfassung bei der ungewöhnlichen Form. Die drei Inhaltsebenen, die sich digital ja nicht bloß linear darstellen lassen, wurden letztlich auf drei Bände verteilt. Das heißt, sie sind nicht chronologisch zu lesen, sondern synchron: Zu jedem Kapitel findet sich in jedem Band jeweils eine Inhaltsebene. Auch das Audio zum Kerntext, das von Eva Engert eingesprochen wurde, bleibt in der Druckfassung erhalten: Via QR-Code lassen sich die jeweiligen Kapitel auch anhören.

Überhaupt handelt es sich um ein hybrides Werk. Es ist an verschiedenen Stellen mit QR-Codes versehen, die es ermöglichen, zu den Inhalten einer anderen Ebene auch online zu gelangen, wenn man eine Druckversion des betreffenden Bandes nicht zur Hand hat. Der Verlag war so mutig, dieses Experiment mit uns zu wagen. Wer veröffentlicht schon ein Buch, das größtenteils online schon zugänglich ist? Und das auch noch mit Portalen, die direkt zu den Online-Inhalten führen?

Mutig ist dieser Schritt auch, weil es sich um ein Werk handelt, das kaum jemandem gefallen dürfte. Es ist radikal kritisch in jede Richtung – und stellt sich damit ins Abseits fast aller politischer Strömungen. Zudem ist es im Ton wenig diplomatisch, was uns einige sicher als Überheblichkeit ankreiden dürften. Aber all das macht das Werk eigentümlich: in Form, Inhalt und Stil. Und wir glauben, dass manche das eine oder andere zu würdigen wissen. Vielleicht nicht sofort. Aber über die Zeit.

Vermutlich steht das Panorama für maximalen Antipopulismus. An keiner Stelle wollten wir es irgendwem recht machen. Es sollte gesagt werden, was wir für richtig halten. Ohne Wenn und Aber – frei von den Dogmen und Tabus, die wir als langjährige Engagierte in linken Strukturen nur allzu gut kennen. Ja, wir wissen wovon wir reden. Linke Theorie haben wir bis zum Erbrechen gefressen, linke Praxis in verschiedenen Kontexten hautnah erlebt und auch selbst ins Werk gesetzt.

Zugleich haben wir uns das Reflexionswissen angeschafft, um unser Unbehagen mit linker Theorie und Praxis, das zu einem Abstand zu unseren alten Wirkungskreisen geführt hat, besser zu begreifen. Den Auseinandersetzungen mit politischer Theorie, der Organisationssoziologie, der Bewegungsforschung, aber auch der langen Archivarbeit zur linken Ideen- und Bewegungsgeschichte musste letztlich eine umfassende Revision folgen: Im Konzept des Sozialrepublikanismus findet sie ihren Ausdruck.

Die Ideen, die wir im Panorama vorstellen, entwickelten wir vor dem Hintergrund einer häufig festgestellten Krise der repräsentativen Demokratie. Diese ist unseres Erachtens auch eine Krise der Linken. Was eigentlich selbsterklärend sein sollte. Denn die Repräsentationskrise äußert sich ja gerade im sogenannten Rechtsruck. Und sofern man schon mit diesen Lagerkategorien arbeitet, sollte klar sein: Rechte Raumgewinne sind stets auch linke Raumverluste.

Daher problematisieren wir nicht nur Schwachstellen demokratischer Repräsentation, die zu einem weit verbreiteten Unbehagen führen, sondern auch die Frage, warum sich so viele von linker Politik nicht repräsentiert sehen, ja von dieser gar in ihrem Unbehagen bestärkt werden, für das ihnen nur die äußere Rechte derzeit ein verfängliches Erklärungs- und Artikulationsangebot bietet.

Es mögen einige nicht hören wollen: Aber ja, wir meinen, ohne die Rolle linker Identitätspolitik ist diese Entwicklung nicht zu verstehen. Sie steht im Zentrum der linken Krise, die vor allem eine epistemische ist. Denn die Identitätspolitik hat gravierende Denkfehler und Denkverschlüsse – und damit einen irrationalen Drive – im linken Lager hervorgebracht. Zum anderen hat sie zu einer fatalen Überlagerung von Klassen- und Kulturkonflikten geführt, mit der sich die politische Lagertektonik verschoben hat.

Um das klarzustellen: Wem unsere politische Arbeit bekannt ist, der weiß, dass unsere Kritik an linker Identitätspolitik keinem Trend folgt. Viele Jahre wirkten wir gegen diese im Mikrokosmos der linken Szene an, wo sie einst keimte, bevor sie auf den bildungsbürgerlichen Mainstream überschwappte. Das große Woke-Bashing von rechts hatte da noch gar nicht begonnen. Ja, derlei Kritik war zuerst eine innerlinke Disziplin, die ganz zentral um Klassenfragen und Transformationsperspektiven kreiste.

Unsere Erfahrung war schon früh, dass dort, wo Identitätspolitik auch nur ein bisschen Raum greift, die Potentiale für eine Organisierung der unteren Klassen regelrecht zunichtegemacht werden – und auch die Diversität darunter leidet. Linke Strukturen, in denen Identitätspolitik waltet, sind bezeichnenderweise sehr homogen: Sie sind meist eine bildungsbürgerliche (Kartoffel-)Suppe. Es war völlig klar, dass die Linke, so identitätspolitischer sie wird, viele Menschen abstoßen wird.

Linke Strukturen, in denen Identitätspolitik waltet, sind bezeichnenderweise sehr homogen: Sie sind meist eine bildungsbürgerliche (Kartoffel-)Suppe.

Die Warnungen waren da, wurden aber in den Wind geschlagen. Zum Beispiel, als in den 2010er Jahren in der radikalen Linken eine Debatte über das Verhältnis von Klassen- und Identitätspolitik aufkam – und beendet wurde, bevor sie richtig begann. Zwei Narrative wirkten hier verschließend und damit verheerend: erstens, dass Kritik an Identitätspolitik sich gegen den Einsatz für deprivilegierte Gruppen richte; zweitens, dass es sich dabei um eine rechte Stoßrichtung handele.

Beide Engführungen verunmöglichten eine tiefergehende Debatte. Man begnügte sich damit, dass Identitätspolitik doch soziale Gerechtigkeit für alle zum Ziel habe. Klassenkampf, Feminismus, Antirassismus usw., das solle man nicht gegeneinander ausspielen. Mit den empirischen Mechanismen, die linke Identitätspolitik – jenseits ihrer Absichten – zu einer exklusiven, ja klassistischen Sache machen (könnten), wollte man sich partout nicht befassen.

Und so nahm das Unheil seinen Lauf. Denn es wurde damals ein Verständnis von Identitätspolitik verstellt, dass diese nicht als Einsatz für deprivilegierte Gruppen (also gleichgesetzt mit subalterner Interessenpolitik) begreift. Ausgeblendet wurde so, dass sie vor allem für einen epistemischen Modus von Politik bzw. eine politische Kultur steht, die letztlich alle politischen Felder durchdringt – und auch die Gestalt der Linken entscheidend verformt.

Bis heute sind im linken Diskurs Bedeutung, Mechanik und Tragweite der Identitätspolitik unverstanden. Mit ihrem Siegeszug im bildungsbürgerliche Mainstream haben sich die kritikimmunisierenden Narrative gar derart verselbstständigt, dass sie selbst zum Treiber des Rechtsrucks wurden. Jegliches Unbehagen mit ihr wird als »rechtes Narrativ« oder »rechter Kulturkampf« disqualifiziert – unabhängig von seinem inhaltlichen Gepräge.

Bis heute sind im linken Diskurs Bedeutung, Mechanik und Tragweite der Identitätspolitik unverstanden.

Es ist eine Sinnentleerung von Begriffen, zur Schau gestellt von Epigonen einer Politik, die deren ideengeschichtliche Genese nicht mal kennen – und denen Klassenanalyse fremd ist. Vor lauter woker Verrenkungen zwecks virtue signaling weiß man nicht mehr, wo links und rechts, wo oben und unten ist. Die Folge davon ist, dass mit »links« mittlerweile relativ privilegierte Milieus verbunden werden, die sich an die Obrigkeit anschmiegen. Vielen assoziieren damit mittlerweile ein Herrschaftsprojekt.

Wir sprechen in diesem Zusammenhang von einer »Neuesten Linken«: ein Amalgam aus bildungsbürgerlicher Basis und ideologischen Versatzstücken, die in der radikalen Linken gekeimt sind – und dort schon toxische Machtspiele begründeten. Mit ihrer Adaption durch den bildungsbürgerlichen Mainstream wurde das Problem auf die Gesellschaft hochskaliert. Identitätspolitik wurde dabei zu einer klassistischen Herrschaftstechnik relativ privilegierter Milieus.

Dass der einfache claim, es gehe etwa bei Wokeness doch bloß um ein Bewusstsein für die Perspektiven subalterner Gruppen, vielen genügt, um sich mit dem Klassencharakter linker Identitätspolitik nicht zu befassen, steht für eine erschreckende Verflachung im linken Diskurs, die leider auch den akademischen Betrieb erfasst hat. Mich persönlich erstaunt es jeden Tag aufs Neue, ich welch bequemen Erklärungen für den Rechtsruck sich einige Kollegen eingerichtet haben.

Es ist, als sei all das komplexe Wissen über die Diffusion von Ideen und die Formierung von Meinungen, über Anschluss- und Resonanzfähigkeit, über Interaktions- und Abstoßungseffekte, über soziale und kulturelle Dispositionen verschwunden. Seit Jahren begnügt man sich mit dem schlichten Narrativ von der Normalisierung rechter Narrative, als würden sich Menschen einfach so mit bösen Gedanken infizieren. Diese Erzählung wurde so oft wiederholt, dass sie vielen offenbar als »wahr genug« (Russell Muirhead & Nancy Rosenblum) gilt.

Tatsächlich handelt es sich um dünne Suppe, auch wenn sich viele dabei auf »die Wissenschaft« berufen. Die gemeinten Studien sind wenige und von ihrem korrelativen Design her gar nicht geeignet, um solche (Mono-)Kausalitäten zu behaupten. Sie werden nicht nur unkritisch rezipiert, sondern auch zu pauschalen Erklärungen mit fast schon deterministischer Lesart aufgeblasen. Die Komplexität der Faktoren rechtsextremer Erfolge ignoriert man regelrecht. Und die eigene Rolle sowieso.

Dabei steht der Elefant doch im Raum. Wir wissen, dass die Milieus, die Träger linker Politik heute sind, äußerst bildungsbürgerlich geprägt sind: bei den Grünen schon lange, mittlerweile auch bei der Linkspartei und zunehmend auch bei der SPD. Wir wissen außerdem, dass diese Milieus die kulturellen Produktionsmittel dominieren, und ferner, dass sie durch die Brandmauerpolitik – ob man sie nun gutheißt oder nicht –  auch große Teil der Konservativen von sich abhängig gemacht haben.

Auf der anderen Seite wissen wir, dass die identitätspolitischen Praktiken und Diskurse auf breite Ablehnung treffen: die kulturellen Techniken wie Gendern oder Pronomenrunden und generell die Politik der Sprachgebote; die (De-)Legitimierung von Stimmen anhand sozialer Merkmale; das Branding allerlei Ansichten als demokratie- oder menschenfeindlich; die Cancel-, Callout- und Zensurpraxen zum Ausschluss dessen, was keine Normalisierung erfahren dürfe; usw. usf.

Die Repräsentationskrise manifestiert sich tagtäglich in diesen Diskrepanzen. Denn Identitätspolitik meint keinen Themenbereich, sondern einen Modus, mit dem allerlei Themen bearbeitet werden. Sie prägt die neolinken Dogmen und Tabus etwa in der Migrationsdebatte, wo Anhänger von Grünen und Linkspartei über Kreuz mit dem Rest liegen – selbst der Mehrheit von SPD-Anhängern. Selbst die Brandmauerpolitik, die identitätspolitisch stabilisiert wird, hat keinen breiten Rückhalt.

Das entscheidende bei diesen Diskrepanzen sind die Klassenmomente. Denn die politisch und medial wirkungsmächtigen Normen, was sagbar und was korrekt ist, sind durch eine (identitätspolitische) Epistemologie geprägt, die milieuspezifisch konstituiert bzw. habituell eingefärbt ist. Die politische Kultur, die daraus resultiert, wirkt auf die einfachen Menschen regelrecht abstoßend. Neolinke können sich gar nicht vorstellen, welch mentalen Brechreiz sie bei vielen Menschen verursachen.

Es gibt gravierende Verschiebungen in der Lagerpartitionierung, die sich nicht einfach dadurch erklären lassen, dass Menschen mit bösen Narrativen infiziert werden. Der große Durchbruch der AfD etwa, als sie sich von einer 10+- zu einer 20+-Partei mauserte, geschah, als sie neben politikfernen Nichtwählern die Arbeiter erreichte, die vorher überproportional an SPD und (insbesondere im Osten) an Linkspartei gebunden waren. Solch tradierte Bindungen lösen sich nicht einfach; hier ist etwas gebrochen.

Es gibt gravierende Verschiebungen in der Lagerpartitionierung, die sich nicht einfach dadurch erklären lassen, dass Menschen mit bösen Narrativen infiziert werden.

Umso mehr gilt das, als ein signifikanter Anteil der AfD-Wähler durchaus nicht überzeugt ist von Programmatik der Partei; nicht wenige geben an, ihre Entscheidung überdenken zu wollen, wenn sich bei den etablierten Parteien was täte. Ja, wir wissen sogar, dass die allermeisten AfD-Wähler kein gefestigtes rechtsextremes Weltbild haben, sogar relativ liberal eingestellt sind. Das verweist weniger auf die Attraktivität der AfD als auf eine Aversion, die man gegenüber den anderen Parteien verspürt.

Und diese Aversion ist eben am stärksten in Bezug auf das neolinke Bildungsbürgertum, das über unverhältnismäßig viel Diskursmacht verfügt. Man muss sich schon dumm stellen, wenn man die kulturellen Bruchlinien nicht sehen will. Der Querschnitt der beruflichen Hintergründe unterscheidet sich etwa beim repräsentativen Personal der AfD gerade im Osten drastisch von dem der anderen Parteien. Gegenüber den akademisierten Sesselpupsern repräsentiert man eben eine Art von Bodenständigkeit.

Politische Resonanzfähigkeit ist eben erstmal durch kulturelle Anschlussfähigkeit bedingt. Das heißt, die vorpolitische Dimension entscheidet über die Akteurspräferenz mit. Und die ergibt sich im politischen Wettbewerb stets auch im Verhältnis zur Konkurrenz: Hohe Abneigung für die einen kann sich in Sympathie für die Widersacher übersetzen. Wenn die Rechte zunehmend in Arbeitermilieus punktet, impliziert das eine wachsende kulturelle Diskrepanz zwischen der Linken und jenen Milieus.

Wir haben es also mit einer Überlagerung von Klassen- und Kulturkonflikten zu tun. Damit lässt sich denn auch erklären, warum viele Bürger trotz relativ liberaler bzw. moderner Einstellungen eine (tendenziell) rechtsextreme Partei wählen wollen. Oder warum etwa Arbeiter mehr Sympathien für Akteure empfinden, die für ihre sozialen Interessen programmatisch eigentlich nichts zu bieten haben. Oder warum diejenigen, die genau diese Interessen bzw. den Klassenkampf ständig betonen, dennoch keinen Stich dort machen.

Wer nicht nur in seiner bildungsbürgerlichen Bubble lebt und den vielen Leuten, die sich der AfD zugewendet haben, zuhört (ob in den sozialen Medien oder in der Eckkneipe), wird das auch offen zu hören bekommen. Es herrscht bei vielen Menschen eine regelrechte Verachtung für die politische Kultur des »Parlaments der Akademiker« im Allgemeinen und des linken Lagers im Besonderen. Seine Versuche, sich auf der Straße oder im Netz nahbar zu zeigen, machen daher alles noch schlimmer.

Es herrscht bei vielen Menschen eine regelrechte Verachtung für die politische Kultur des »Parlaments der Akademiker« im Allgemeinen und des linken Lagers im Besonderen.

Dass rechte Erfolge durch die politische Kultur der Linken befördert werden, versucht diese aber ständig wegzukonstruieren oder zumindest kleinzureden. Symptomatisch dafür ist Thomas Zimmer jüngst in der Zeit: In Bezug auf die USA schreibt dieser, dass »die Vorstellung einer homogenen Unterschicht, die sich nach rechts bewegt habe«, falsch sei. Es sei ›nur‹ die weiße Arbeiterklasse, die zu zwei Drittel Trump gewählt habe. Bei den Hispanics seien es ja weniger als die Hälfte, und bei den Schwarzen lediglich 15 Prozent.

Ähnliches hört man auch hierzulande: Es seien nur 30 Prozent der Arbeiter, die AfD wählen – und diese damit keine Arbeiterpartei. Oder es wird, wie auch bei Zimmer, angeführt, dass die große Mehrheit ja relativ liberal eingestellt sei. Allein: Niemand hat behauptet, dass die Arbeiterklasse en bloc nach rechts gerutscht sei. Vielmehr ist der Knackpunkt, dass es im Wahlverhalten eine kritische Verschiebung nach Rechtsaußen gab – und das gerade ohne eine massenhafte Ausbreitung illiberaler Einstellungen.

Zimmers Kennwerte sprechen vielmehr dafür, dass das linke Lager fatale Abstoßungseffekte erzeugt. Ja, die Demokraten schwächeln schon lange bei der weißen Arbeiterklasse. Aber im bipartisanen US-System machen ein paar Prozent Verluste in diesem Segment den Unterschied. Clinton, Biden und Harris haben dort jedenfalls neue Negativrekorde für die Demokraten erzielt. Und bei den Ethno-Segmenten, die eigentlich eine sichere Bank für die Partei sind, hat man auch verloren: bei den Schwarzen ein wenig, bei den Latinos sogar massiv.

In Deutschland ist die Fallhöhe noch drastischer. Immerhin waren hier die Arbeiter traditionell eher links gebunden. Dass Rechtskonservative anschlussfähig nach Rechtsaußen sind, ist gewiss nicht verwunderlich; dass aber SPD und Linkspartei (vor allem im Osten) ihre historische Klientel dorthin verlieren, ist hingegen ein dickes Ding. Es macht nicht nur den Unterschied, ob die AfD eine nervige Oppositionspartei oder ein Machtaspirant ist – es raubt der Linken auch jegliche Zukunftsperspektiven.

Linke Politik, die sich mehr oder weniger über Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit definiert, zielt seit eh und je auf die unteren Klassen. Geht der Anschluss an sie verloren, verändert sich nicht nur die sozio-politische Lagertektonik, es erledigt sich damit auch eine Transformationspolitik von links. Denn ein Projekt sozialer Umgestaltung setzt stabile Mehrheiten bei den betreffenden Gruppen voraus. Sowohl die Krise der Demokratie als auch die Krise der Linken lassen sich also ohne die beschriebenen Verschiebungen nicht verstehen.

Der Schlüssel für ein Verständnis ebenselbiger ist eine radikale Kritik der linken Identitätspolitik, also eine, die deren Klassencharakter zu entschlüsseln vermag. Linke Identitätspolitik ist nämlich sowohl Quelle als auch Ausdruck der sozialen Zusammensetzung der Linken. Sie steht für einen epistemischen Modus, der nicht nur der bildungsbürgerlichen Positionalität ihrer Träger entspricht, sondern auch Handlungsweisen hervorbringt, durch die sich jene Zusammensetzung reproduziert oder gar verschärft.

Doch was hat dieses Verbauen sozialistischer Möglichkeiten mit dem historischen Republikanismus zu tun, auf den wir uns berufen? Nun, der Zusammenhang mag nicht sofort ersichtlich sein, aber tatsächlich gibt es eine lange Vorgeschichte von unbearbeiteten Fehlern der Linken, die in die Sackgasse geführt haben, inklusive des Problems, dass diese Sackgasse nicht einmal gesehen wird. Um die Entstehung der neolinken Wissensordnung zu verstehen, die hier verblendend wirkt, muss man den Weg dorthin rückwärts nachvollziehen.

Es ist nicht lange her, da waren identitätspolitische Praxen einer kleinen Szene vorbehalten. Queerfeminismus, Intersektionalität, Definitionsmacht usw. usf., das waren Dinge, die in der radikalen Linken zuhause waren – und an den Unis in Nischen behandelt wurden. Der bildungsbürgerliche Mainstream – eine Herde von Opportunisten – war deutlich konservativer; SPD und Grüne wollten sich mit derlei Konzepten kaum die Hände schmutzig machen. Und als sonderlich links galten diese Parteien auch nicht gerade.

Am Ende ging die Diffusion an den Unis und in die Parteien bis in die postkonservative Mitte ziemlich schnell, nachdem sich Identitätspolitik als dominierender Modus in der linken Szene durchgesetzt hatte. Die vorangehende Inkubationszeit ist aber eine längere Geschichte, die man genauer im Panorama nachvollziehen kann. Hier soll nur gesagt sein, dass ein entscheidender Faktor die Organisationsformen und transformationspolitischen Ansätze waren, die sich in der Neuen Linken etabliert hatten.

Man setzte in Sachen Transformation zunehmend auf eine kulturrevolutionäre Praxis, die auf einer standpunkttheoretisch grundierten Politisierung des Persönlichen baute.

Denn zum einen entwuchsen ihr horizontale, partizipative Strukturen und Kulturen, die eine bestimmte soziale Zusammensetzung beförderten: nämlich eine, um es mit Max Weber zu sagen, von »Abkömmlichen« geprägte, das heißt, insbesondere studentischer bzw. bildungsbürgerlicher Art. Zum anderen setzte man in Sachen Transformation zunehmend auf eine kulturrevolutionäre Praxis, die auf einer standpunkttheoretisch grundierten Politisierung des Persönlichen baute.

Beides ist – um das abzukürzen – eine Folge unbearbeiteter Fehler linker Vergangenheit. Denn der beschriebene shift steht in einem Zusammenhang mit dem nicht aufgelösten Dualismus von bürgerlicher und proletarischer Revolution. Mit dieser war der Sozialismus – sowohl marxistischer als auch anarchistischer Art – einst in eine Pfadabhängigkeit geraten, in der sich Transformation nur als Überwindung der bürgerlichen Gesellschaftsformation denken ließ.

Die Erfahrungen mit dem Staatssozialismus hatten zwar dazu geführt, dass man autoritären Ansätzen skeptisch gegenüberstand, doch blieb man ganz in der Logik verhaftet, dass die bürgerliche Republik in Gestalt der repräsentativen Demokratie eine Art Feigenblatt kapitalistischer Herrschaft sei, die als deren Hülle mitzusprengen sei. In Ablehnung eines strategischen Zugriffs auf die gesellschaftlichen Institutionen wurde so zwangsläufig ein Revolutionsverständnis befördert, das im Alltag ansetzt.

Wenn Neolinke heute beim Thema Kulturkampf stets nach rechts zeigen, sollte man das mitbedenken. Die Neue Linke setzte nun mal auf genau einen solchen: auf die Revolutionierung der interpersonellen Beziehungen, durch Sprache, Verhalten, Bewusstsein. Damit wurde der Pfad geebnet für die politische Pädagogik, mit der Linke heute vor allem verbunden werden. Sie wirken wie eine Art Sittenwächter darüber, wer über was wie sprechen soll – wobei sich der Quasi-Klassenfeind am Nichtbefolgen dieser Regeln festmacht.

Linke von heute wirken wie eine Art Sittenwächter darüber, wer über was wie sprechen soll – wobei sich der Quasi-Klassenfeind am Nichtbefolgen dieser Regeln festmacht.

Das war – unabhängig vom Gehalt – in the long run durchaus erfolgreich. Die vielen als »woke« verhandelten mikropolitischen Techniken, die uns überall begegnen, zeugen davon. Nur hat man damit die Büchse der Pandora geöffnet. Denn dass mit diesem Paternalismus Ausschlüsse produziert werden, die Konflikte etwa um Meinungsfreiheit erzeugen, sollte ebenso wenig verwundern wie der Umstand, dass hier – ob der sozialen Zusammensetzung ihrer Anwender – Klassenmomente zum Tragen kommen.

Die als durchzusetzend empfundenen Normen mögen zwar progressiv verargumentiert sein, als Ermächtigung deprivilegierter Gruppen; es werden bei ihrer identitätspolitischen Begründung aber die Subalternen nur ideologisch funktionalisiert. Das heißt, das, was angeblich in deren Interesse wäre, wird durch die Brille der eigenen Positionalität interpretiert. Linke Identitätspolitik ist nicht nur habituell eingefärbt, sondern reflektiert insgesamt eine politische Kultur, die mit den Präferenzen der einfachen Menschen über Kreuz liegt.

Im Panorama gehen wir zu den Anfängen dieses Pfades zurück. Und die liegen, auch wenn das auf Anhieb nicht erkennbar ist, bei der Revolutionsmythologie der Alten Linken, die das Verhältnis zur bürgerlichen Gesellschaftsform definierte – und die durch innerlinke Geschichtspolitik verfestigt wurde. Immerhin haben beide Großströmungen des Sozialismus (Marxismus und Anarchismus) die Ideengeschichte der Linken geprägt – und darunter alternative Ideen begraben, die andere Wege der sozialen Transformation denkbar machen.

So halten sich etwa in Bezug auf die Erste Internationale, die weichenstellend für die Pfade des Sozialismus war, noch heute hartnäckig Lesarten, die einer genaueren Betrachtung nicht standhalten. Erst jüngst präsentierte Marc Püschel bei Politik & Ökonomie eine Darstellung dieses Kapitels, die – von interpretativen Nuancen abgesehen – dieses wie üblich durch die Brille eines Konflikts zwischen Karl Marx und Michail Bakunin bzw. Marxismus und Anarchismus betrachtet. In Wirklichkeit waren die Einkerbungen in der IAA aber andere.

Diese bestand vor allem aus autonomen Arbeiterorganisationen, die in gewerkschaftlichen Praxen gewachsen waren. In der IAA wollten sie sich über einen Generalrat international koordinieren. Als Marx die Organisationen einer Zentrale unterstellen und parteipolitisch ausrichten wollte, geriet er in Konflikt mit allen Landesföderationen. Mit Bakunin und den Anarchisten hatte das nur sekundär zu tun. Den Föderationen ging es um den Erhalt einer autonomen Arbeiterbewegung, die sich ideologisch nicht funktionalisieren lässt.

Der Mythos Marx vs. Bakunin reduziert die IAA auf einen paradigmatischen Konflikt zwischen Anarchismus und Marxismus, wo es eigentlich um ideologische Offenheit vs. Verengung ging. Das zeigt sich auch daran: Nachdem die vom Marx‘schen Generalrat bereinigte IAA (bis heute fälschlich als »antiautoritäre Internationale« bezeichnet) zunehmend anarchisierte, waren auch die Massenorganisationen schnell weg. In der Folge versuchten sowohl Anarchisten als auch Marxisten die Geschichte der IAA als ihr Ding zu vereinnahmen.

Beiden Strömungen gemeinsam war dabei der bürgerlich-proletarische Dualismus. Ihre Geschichtspolitiken blendeten daher aus, dass die frühe Arbeiterbewegung keineswegs der bürgerlichen Republik so feindlich gegenüberstand. Da begriff man diese nicht unbedingt als Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie, sondern auch als historisch errungene Form politischer Freiheit, die ins Soziale hinein ausgebaut werden könne. In der IAA etwa diskutierte man über einen »Industrie-Staat«: ein Vorläufer des Konzepts der Wirtschaftsdemokratie.

Derlei Positionen gerieten aber mit der dominanten Deutung des Sozialismus als revolutionärem Gegenprojekt zum bürgerlichen Staat in Vergessenheit. Und eingeleitet wurde dieser Prozess mit der Pariser Kommune, bis zu der man sich in der IAA noch als »Bürger« ansprach. Während vor 1871 noch vielfältige Vorstellungen kursierten, wie bürgerliche Freiheitsrechte und soziale Emanzipation zusammenzudenken seien, führte die gewaltsame Niederschlagung der Kommune zu einer nachhaltigen Verengung der politischen Imagination.

Obwohl die Kommune selbst ein republikanisches Projekt war, wie Hannah Arendt einst gut herausgestellt hat, wurde sie von beiden Großströmungen des Sozialismus als Prototyp einer proletarischen, gegen den bürgerlichen Staat gerichteten Revolution ausgedeutet – wenn auch auf unterschiedliche Weise. In jedem Falle wurde die republikanische Traditionslinie in der Arbeiterbewegung von hier an zunehmend marginalisiert, während der politische Möglichkeitsraum des Sozialismus massiv verkleinert wurde.

Das Betreten dieses Pfads ist ursächlich dafür, dass die Linke bis heute keine eigenständige Demokratietheorie entwickelt hat. Zwar versuchte die marxistische Sozialdemokratie einst pragmatisch mit dem bürgerlichen Staat zu arbeiten, hielt sich im Wesentlichen aber an einem revolutionären Wunderglauben fest, nur um dann 1918 ohne Konzepte dazustehen. Mit der Abkehr von der revolutionären Ausrichtung folgte dann die vollständige Integration in die bestehende Ordnung, bar jeder Transformationspolitik.

Die Neue Linke führte das bürgerlich-proletarische Revolutionsverständnis weiter – nur halt ohne Proletariat als Basis.

Die Neue Linke schließlich, sie führte das bürgerlich-proletarische Revolutionsverständnis weiter – nur halt ohne Proletariat als Basis. Es folgte daraus die Flucht in den Kulturkampf: Durch eine Rekonfiguration des Alltags (in partizipativen Strukturen) sollte der neue Mensch heranreifen. Zwar versuchten speziell die Grünen, pragmatisch mit der repräsentativen Demokratie umzugehen, doch ihr durchaus erfolgreicher Marsch durch die Institutionen führte letztlich nur dazu, dass der Kulturkampf zunehmend von oben geführt wurde.

Es wird manche Historiker zukünftig beschäftigen, wie linke Identitätspolitik Ende der 2010er Jahre solch einen Siegeszug im Bürgi-Mainstream vollziehen konnte. Wir zumindest meinen, dass sie in den Organisationsformen der linken Szene, die eine bildungsbürgerliche Zusammensetzung fördern, gute Bedingungen zum Reifen fand – und schließlich aufgrund ihrer habituellen Anschlussfähigkeit auf die Institutionen und Organisationen mit ebenfalls bildungsbürgerlicher Prägung überspringen konnte. Sie war dort eben opportun geworden.

Hier kommt eine weitere (dysfunktionale) Kontinuitätslinie zum Tragen. Denn auch die heutige Identitätspolitik hängt mit dem bürgerlich-proletarischen Dualismus zusammen. Insbesondere der Marxismus entwickelte daraus ja eine Wissensordnung, die trotz klassenpolitischer Einfassung identitätspolitische Momente aufwies. Dabei konstruierte man einen proletarischen Standpunkt, der dem bürgerlichen epistemisch überlegen sei. Dass sich derlei zur Herrschaftstechnik eignet, wissen wir spätestens durch den real existierenden Sozialismus.

So wie die Neueste Linke heute diverse Subalterne ideologisch funktionalisiert, tat dies die Alte Linke in Bezug auf die Arbeiterklasse. Auch hier behauptete man, deren Interessen zu verkörpern, wobei man die eigene Ideologie auf diese projizierte. Auch hier fuhr man einen epistemischen Relativismus, der eine höhere Wahrheit behauptete, flankiert von neuen Sprach- und Verhaltensnormen. Auch hier brandmarkte man Kritiker (vor allem die linken) bei Nichtbefolgung als reaktionär oder bourgeois, als Arbeiterfeind oder Klassenverräter.

Heute ist man woke, so wie man früher klassenbewusst war. Im Kern geht es aber um einen Fortschrittsglauben, zu dessen Legitimation bestimmte Emanzipationssubjekte herhalten müssen.

Dass die woke Syntax von heute ähnlich ausfällt, ist kein Zufall. Da die linke Revolutionsmythologie nämlich nicht grundsätzlich aufgelöst wurde, tauschte die Neolinke, als sie ohne Proletariat dastand, bloß die Subjekte aus, deren Emanzipation man diene. Heute ist man woke, so wie man früher klassenbewusst war. Im Kern geht es aber um einen Fortschrittsglauben, zu dessen Legitimation jene Subjekte herhalten müssen. So wie es auch Marx schnuppe war, ob seine Agenda überhaupt von der Arbeiterbasis in der Internationale geteilt wird.  

Das ewig währende Problem linker Politik heißt eben Repräsentanz. Im Großen wie im Kleinen. Weder hat die Linke eine Demokratietheorie, mit der sie die Repräsentationskrise der Republik beantworten kann, noch setzt sie sich damit auseinander, warum sie viele (einfache) Bürger nicht repräsentieren kann. Noch weniger hat sie ein Verständnis davon, dass ihre eigene Repräsentationskrise auf denselben Klassenmechanismen baut wie die des Systems – und sie daher mehr als Herrschafts- denn als Transformationsprojekt wahrgenommen wird.

Antworten bietet die vergessene sozialrepublikanische Tradition. Von der frühen Arbeiterbewegung und der IAA, über die Gildensozialisten und die Bernsteinianer, bis zu den Spätsyndikalisten und der Marburger Schule: Ideen, die sozialistisches Transformations- mit demokratischem Verfassungsdenken verbinden, finden sich strömungsübergreifend. Sie zielen nicht auf politische Hegemonie, um via Ordnungsbruch das Soziale umzugestalten, sondern auf eine politische Autonomie des Sozialen, durch die sich die Ordnung wandelt. 

Den falschen Optionen von Autoritarismus vs. Basisdemokratie hält diese Perspektive eine Reinterpretation von repräsentativer Demokratie entgegen. Und das in einer Weise, die den »kognitiven Asymmetrien« (Veith Selk) entgegenwirkt, die den klassistischen Mechanismen sowohl des aktuellen Parlamentarismus als auch linker Organisierung entspringen. Anzustreben wäre demnach eine Demokratisierung verschiedener sozialer Sphären, damit eine andere, eine soziale Repräsentanz im Politischen entsteht: eine Republik der sozialen Demokratien.

Wie eine solche Vision auszubuchstabieren ist und welche Rolle Gewerkschaften wie auch Genossenschaften dabei spielen, lässt sich im Panorama nachlesen. Entscheidend für sie ist aber der Bruch mit der Identitätspolitik. Denn diese wirkt gegen die unteren Klassen: die notwendige Basis einer solchen Transformation. Dass sich der gesellschaftliche Wind gegen Identitätspolitik gedreht hat, macht eine radikale Kritik an ihr nicht weniger nötig. Im Gegenteil: Solange sie stilprägend im linken Lager ist, wird sich der Drift nach rechts nicht umkehren lassen.

Neue Veröffentlichung: Holger Marcks & Felix Zimmermann, Zurück nach vorn. Ein sozialrepublikanisches Panorama, 3 Bände (Aschaffenburg: Alibri-Verlag, 2025), online bestellbar hier.