Memo: Why the Fuck Harris?

Ganze 72 Prozent der Deutschen glaub(t)en, Kamala Harris würde die US-Präsidentschaftswahlen gewinnen. So das Ergebnis einer Befragung des ZDF-Politbarometers vor weniger als zwei Wochen. Seitdem hat Donald Trump in den Meinungsumfragen deutlich zugelegt; und auch der deutschen Öffentlichkeit dämmert, dass Harris keineswegs gut dasteht.

Und doch offenbart die Befragung des ZDF eine verzerrte Wahrnehmung von der aktuellen Situation in den USA. Denn schon vor zwei Wochen gab es wenig Grund für so eine deutliche Einschätzung des Wahlausgangs. Auch jetzt scheint in der Öffentlichkeit noch nicht richtig angekommen zu sein, dass ein Sieg Trumps wahrscheinlicher wird. Welche Aspekte erfahren also zu wenig Beachtung im öffentlichen Diskurs, damit so eine Fehlwahrnehmung zustande kommt?

Spätestens seit Al Gores Niederlage gegen George W. Bush wissen wir, dass der popular vote nur von sekundärer Bedeutung ist: Der Demokrat gewann im Jahr 2000 insgesamt mehr Stimmen als der Republikaner, hatte aber dennoch weniger Wahlmänner. Das electoral college, wie die Versammlung der Stimmen aus den unterschiedlich gewichteten Bundestaaten heißt, ist allen Interessierten bekannt. Und ebenso, dass das US-Wahlsystem Verzerrungen wie im Falle Gores zulässt.

Oder wie bei Trumps erstem Triumph im Jahr 2016, der für viele überraschend kam. Im Nachgang wurde deshalb viel auf die Meinungsforschungsinstitute geschimpft. Sie hätten doch die ganze Zeit Hillary Clinton vorne gesehen. Allein: Das stimmte am Ende ja auch. Zumindest bezogen auf den popular vote waren die Prognosen nicht falsch: Clinton gewann die Wahl mit fast drei Millionen Stimmen Vorsprung. Doch im electoral college sahen die Verhältnisse nun mal anders aus.

Den Instituten wurde also durchaus Unrecht getan. Deren Zahlen mögen zwar variieren, im Durchschnitt sind sie aber durchaus eine nützliche, wenn auch mit Vorsicht zu verwendende Orientierung. Ein genauerer Blick auf ihre Umfrageergebnisse in den umkämpften Bundesstaaten hätte jedenfalls schon 2016 erahnen lassen, dass es mindestens knapp werden dürfte. Auch jetzt liegen die Kandidaten keineswegs gleichauf, wie die Frankfurter Rundschau gerade erst feststellte: Die Differenzen in den swing states sind zwar gering, tendieren aber fast alle Richtung Trump. Wären die jetzigen Werte die Wahlergebnisse, Trump würde alle swing states und damit das electoral college deutlich gewinnen (312 vs. 226).

Gewiss, die Bedeutung des electoral college ist vielen bekannt. Und auch hierzulande wird in diversen Medienformaten selbstverständlich über die Rolle und Lage in den swing states unterrichtet, die den Charakter der amerikanischen Demokratie prägen. Und doch hat man den Eindruck, dass das allgemeine Empfinden der Wahlchancen bei den Deutschen primär am popular vote orientiert ist.

Zur Ehrenrettung der Deutschen sei jedoch gesagt, dass dies auch in den USA bedingt der Fall ist. Zwar ist die Ebene der (umkämpften) Bundesstaaten im medialen Diskurs dort deutlich präsenter, doch aufgrund der Komplexität des uneinheitlichen US-Wahlsystems orientieren sich auch dort viele an den landesweiten Umfragen.

Immerhin setzt eine realistische Wahlprognose einen Fächer von Zwischenschritten voraus: Es müssen die Umfragen aus den einzelnen Bundestaaten in prognostizierte Wahlmännerstimmen übersetzt werden. Ein solches virtuelles electoral college wird aber von den Instituten immer noch nicht als prioritärer Informationstyp angeboten. Es gibt nur wenige brauchbare Webseiten, wo eine Aggregation der unterschiedlichen Prognosen aufbereitet wird.

Jedenfalls ist die Lage für Harris heikel. In den meisten swing states liegt Trump schon länger (leicht) vorne oder steht es allenfalls unentschieden. Dass die Demokratin alle ganz engen Staaten gewinnt – und das müsste sie für den Gesamtsieg – oder in ein, zwei der weniger engen Staaten den Trend umgekehrt, scheint nicht wahrscheinlich. Zumal Trump nun das Momentum hat: Auch im popular vote zieht er gerade kräftig an und womöglich an Harris vorbei.

Die Gründe dafür sind vielfältig, aber einer ist sicherlich, dass die Auftritte von Harris vielen katastrophal erscheinen oder sogar verstörend anmuten. Davon, dass sie Trump zerlege, wie es manche Medien hier erscheinen ließen, kann nicht die Rede sein. Gewiss, sie hatte einen ordentlichen Start, nachdem sie anstelle Bidens übernahm. Dass hier aber eine gute Menge Zweckeuphorie eine Rolle spielte, kann kaum bezweifelt werden angesichts ihrer schlechten Beliebtheitswerte noch vor ihrer Einwechslung.

Den guten Start von Harris, der die Demokraten auf einen höheren Sockel hob, ist vor allem zuvor Unentschlossenen und Frauen zu verdanken. Noch nie war die politische Geschlechterkluft zwischen Demokraten und Republikanern größer. Das weibliche Wählersegment – das ist wichtig – lässt sich also mit Harris besser mobilisieren; dass die nun Mobilisierten aber Trump anstelle eines anderen demokratischen Kandidaten gewählt hätten, drohte eher weniger. Die kritische Masse, die eigentlich den Unterschied macht, ist vielmehr die der Arbeiter.

Auch in den USA neigte die Arbeiterklasse länger zur gewerkschaftsnahen, linken Seite. In diesem Falle: den Demokraten. Wandert diese Wählergruppe in größerem Maße ins rechtskonservative Lager ab, wo sie üblicherweise unterrepräsentiert ist, kann das eine entscheidende Verschiebung sein. Man kann sogar sagen: Historisch sind das die Momente, wo die extreme Rechte Machtperspektiven erhält. Auch hierzulande ist der mittlerweile hohe Pegel der AfD-Umfragewerte ohne den Zugewinn bei den Arbeitern, die zuvor etwa sozialdemokratisch gebunden waren, nicht zu erklären.

Gerade in diesem kritischen Wählersegment ist Harris teilweise geradezu verhasst. Wie verheerend hier der Effekt ihrer Einwechslung war, zeigt sich etwa in den internen Umfragen der Transportarbeitergewerkschaft Teamsters: der größten US-Einzelgewerkschaft. Als Biden noch im Rennen war, entschieden sich 44 Prozent für den amtierenden Präsidenten – und 36 Prozent für Trump. Nun wollen 60 Prozent Trump und 34 Prozent Harris wählen.

Man mag darüber spekulieren wollen, inwiefern hier misogyne Aspekte eine Rolle spielen. Aber diese Reaktanz ist nun mal eine soziale Realität, mit der man arbeiten muss, wenn man Trump verhindern will. Wenn es so ernst ist mit der Demokratie, wie das progressive Lager behauptet, dann sollte wohl überlegt sein, wer die besten Chancen gegen den Gegner hat. Wer nicht in Schönheit zu sterben gedenkt, der muss notfalls auch Abstriche bei der eigenen Wunschliste machen, um das Schlimmste zu verhindern.

Freilich kann hier eine Rolle spielen, dass Entscheider die Tragweite des Problems nicht erfassen. Dazu gehört auch ein intersektionaler Aspekt, der bei den progressiven Eliten, trotz Glorifizierung des Intersektionalitätskonzepts, ausgeblendet wird: Wer den Draht zu den unteren Klassen verliert, der verliert auch bei den minorities, die dieser Sektion überproportional angehören. Dass diesmal verhältnismäßig viele (männliche und junge) Schwarze Trump wählen sollen, könnte Folge davon sein. Trotz oder gerade wegen Wokeness.

Es bleibt ein Rätsel, welche Ratio hinter der Entscheidung für Harris steckt. Immerhin geht man mit einem Kandidaten, der miese Beliebtheitswerte hat – und das hatte Harris bis zu Bidens Verzicht schon lange –, offenkundig ein Risiko ein. Schon bei der Kür Clintons hatte es einen Beigeschmack, dass die Alternative, Bernie Sanders, insgesamt bessere Aussichten hatte, Trump zu schlagen: Weil er eben in den kritischen Milieus weniger als Teil einer entfremdeten liberalen Elite wahrgenommen wurde.

Während bei Clinton aber die demokratische Basis (knapp) entschied, hatten es diesmal die Führer der Demokraten in der Hand, so einen Fehler zu vermeiden. Die machten es aber noch schlimmer. Gewiss, die Decke an profiliertem Personal ist dünn. Aber auch das ist Teil des Versagens. Immerhin hatte man, nach dem Schock 2016, fast acht Jahre Zeit, sich auf dieses Szenario vorzubereiten und geeignete Kandidaten aufzubauen – und wäre es auch Dwayne »The Rock« Johnson gewesen. Dass man stattdessen bis zuletzt am greisen Biden festhält, um sich dann eindeutig auf die unpopuläre und unbeholfene Harris festzulegen, ist geradezu fahrlässig.

Es ist eine Entscheidung bzw. eine Kette von Entscheidungen, die nicht gerade den Eindruck vermittelt, dass man wüsste, was auf dem Spiel steht. Auch dass man Harris, die sich als inhaltlose Dauerlacherin entpuppte, nicht einmal in die Bewährungsprobe eines internen Wettbewerbs schickte, macht die Entscheidung zu einer Risikowette ohne Rückversicherung. Zumal Trump, der erratische Polarisierer, keineswegs schwer zu schlagen war. Fast wirkt es, als wollte man es mit Harris spannend machen.

Teil der Repräsentationskrise der Demokratie ist eben auch eine »Kognitionsassymmetrie«, wie es der Demokratietheoretiker Veith Selk nennt: Was die progressiven Eliten als vernünftige Entscheidung für die Demokratie wahrnehmen, wird vom Demos selbst ganz anders gesehen. Die stromlinienförmigen Parteikarriereristen unterlaufen so, durch ihren Tunnelblick, den eigenen Machtinstinkt.

Dass die Repräsentationskrise besonders im Verhältnis zwischen einfachen Menschen und liberalem Establishment durchschlägt, hat auch damit zu tun, dass dieses sich mit woker Politik gemein gemacht hat. Immerhin steht diese, mit der auch Harris verbunden wird, für eine Politisierung des Privaten, die den Menschen im Alltag auf die Pelle rückt. In keinem anderen Politikfeld könnte die Entfremdung zwischen Volk und Elite spürbarer werden. So wirken Milliardäre wie Trump oder Elon Musk dann vergleichsweise volks- oder realitätsnah.

Und das muss man erstmal schaffen. Immerhin fantasiert der geistige Klüngel aus Trump, Musk oder auch Peter Thiel und Curtis Yarvin, von dem Trumps Vize, J.D. Vance, ein Fan ist, offen über die Entkernung der Demokratie. Insbesondere Musk setzt sich seit einigen Wochen massiv für Trump ein und inszeniert sich auf seiner Plattform X als Volkstribun und Heilsbringer. Der Einfluss Musks auf der Zielgerade des Wahlkampfs ist ebenso wenig zu unterschätzen wie sein Größenwahn oder auch die düsteren Ideen eines Yarvin.

Gewiss, dass die USA unter Trump in den Faschismus abgleiten, ist nicht ausgemacht. Aber dass jener Klüngel zum Teil tech-oligarchische Visionen propagiert, sollte durchaus alarmieren. Und das nicht nur mit Blick auf einen möglichen Umbau des Staates. Vor allem globalpolitisch gibt es Anlass zur Sorge. Ein U-Turn in der Russland- und der NATO-Politik hätte weitreichende Konsequenzen, vor allem für Europa. Nicht von ungefähr soll Putin auf Trumps Rückkehr ins Weiße Haus hoffen, dem weiterhin eine Bewunderung für den russischen Kriegsverbrecher nachgesagt wird.

Aber auch wenn Harris – die aktuellen Umfragen in den red und swing states könnten ja doch irren – gewinnen sollte, wird es explosiv. Im Trump-Lager wirkt ohnehin das Narrativ von den gestohlenen Wahlen noch nach; nun wird auch noch behauptet, die Gegenseite plane, die Demokratie abzuschaffen. Vor allem Musk tut sich hier propagandistisch hervor und streut präventiv schon mal das Narrativ, das alles andere als ein Trump-Sieg nur Betrug sein könne. Für eine Wahlniederlage Trumps verheißt das auch nichts Gutes.